Vereinsgeschichte

Aus der Festschrift zum 50jährigen Jubiläum im Oktober 1986

Vorwort

Der Vorstand des Vereins für Straffälligenhilfe Wiesbaden hat im Oktober1986, anlässlich seines 50jährigen Bestehens, zu einer Jubiläumsveranstaltung eingeladen. Mit der Vorlage dieser Broschüre soll den Mitgliedern, Freunden und Förderern des Vereins Gelegenheit gegeben werden, ein Stück Vereinsgeschichte nachzuvollziehen und sich kritisch mit dem Problem Straffälligenhilfe auseinander zusetzen. Die Anerkennung, die uns von Vertretern der Öffentlichkeit entgegengebracht wurde und die auch in den nachfolgenden Grußworten ihren Niederschlag findet, hat uns ermutigt und mit Dank erfüllt.

 

Heute wird ja allgemein anerkannt, dass Straffälligenhilfe eine gemeinsame Aufgabe von Staat und Gesellschaft ist. Sie wird auf vielfältige Art gewährt und stellt eine ständige Herausforderung für jene dar, die sich dieser Aufgabe stellen. Junge Straffällige in Haft und solche, die unter Bewährung stehen, sind in erster Linie Zielgruppe unserer Bemühungen. Ihnen gilt unser Augenmerk und unsere Sorge in zweifacher Hinsicht: Sie sollen befähigt und ermutigt werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben in Freiheit zu führen - und sie sollen dies straffrei tun. Denjenigen, die sich ehrenamtlich oder hauptberuflich dieser Aufgabe widmen, sei es durch persönliche Fürsorge oder materielle Hilfen, gebührt unser besonderer Dank.

 

In dem Bewusstsein, dass unser Verein nur ein Glied in einer Kette von Maßnahmeträgern sein kann, erfreuen wir uns einer guten Zusammenarbeit mit den örtlichen Vertretern der Justiz- und Sozialbehörden, den Wohlfahrtsverbänden, den Kirchen und anderen freien Trägern. Es ist der Wunsch des Vorstandes, die gemeinsam zu tragende und zu verantwortende Arbeit mit bedürftigen Straffälligen zu fördern, zu stärken und auf diese Weise an dem sogenannten Täter-Opfer-Ausgleich mitzuwirken. Soweit es gelingt, Straffälligkeit durch gezielte Betreuung und andere Hilfsmaßnahmen abzubauen, bedeutet dies mittelbar immer auch Schutz für die Allgemeinheit. In diesem Sinne fühlen wir uns verpflichtet und laden Sie ein, unsere Tätigkeit nach Kräften zu unterstützen.

 

Danken möchte ich im Namen des Vereins den beiden Festrednern, Herrn Ltd. Oberstaatsanwalt i. R. Dr. P. Walther Dorbritz und Herrn Professor Dr. Max Busch, die ihre Vorträge zum Abdruck zur Verfügung gestellt haben. Beide sind Kenner der Materie und langjährige Mitglieder des Vereins in leitender Position.

 

Sie stehen stellvertretend für viele Persönlichkeiten, die im Laufe der letzten Jahrzehnte den Verein repräsentierten und förderten oder unmittelbar in zäher Geduld, oft unter Zurückstellung eigener Bedürfnisse, die Auseinandersetzung mit Straffälligen eingegangen sind.

 

Wiesbaden, im März 1987

Zilcher

(Vorsitzender)

 

 

Grußwort von Herrn Staatssekretär Suchan anlässlich des 50jährigen Bestehens des Vereins für Straffälligenhilfe

Im Namen von Staatsminister Dr. Günther darf ich mich für die Einladung für diese Jubiläumsveranstaltung sehr herzlich bedanken. An erster Stelle danke ich all denen, die einen Teil ihrer Freizeit dazu benutzen, sich ehrenamtlich in der Straffälligenhilfe zu engagieren. Ohne die breitgefächerten Aktivitäten der in der Straffälligenhilfe arbeitenden Menschen wäre der gesetzliche Auftrag des Staates, die Eingliederung des Straftäters, noch viel schwieriger zu erreichen. Die Justiz ist aufgerufen, bei der Erreichung des Strafzwecks die aus der Öffentlichkeit kommenden Angebote zur Mitarbeit aufzunehmen und zu fördern.

 

Sie haben an den Beginn Ihres Faltblattes ein Zitat des früheren Bundespräsidenten Karl Carstens gestellt. Lassen Sie mich auf die Rede des derzeitigen Bundespräsidenten zum diesjährigen Juristentag in Berlin hinweisen, in der eine wesentliche Passage dem Strafvollzug gewidmet war. Der Bundespräsident hat ausgeführt: "Die große haupt- und ehrenamtliche Arbeit für und mit Strafgefangenen verdient unsere besondere Achtung und Förderung auch dienst- und laufbahnmäßig! Wir sollten uns, zumal die Juristen, immer wieder bewusst machen, welche Bedeutung dieser Einsatz nicht nur im sozialen Sinne hat, sondern wie wichtig er für das Rechtsbewusstsein im ganzen ist."

 

Die kriminalpolitischen Vorstellungen meines Hauses zielen daraufhin, nicht nur die staatliche Straffälligenhilfe zu fördern, sondern die Öffentlichkeit immer stärker zu beteiligen. Beispielhaft zeigen sich diese Bemühungen in dem seit 1983 landesweit eingeführten Projekt »Tilgung uneinbringlicher Geldstrafen durch freie Arbeit«. Verurteilten wird die Möglichkeit eröffnet, im Rahmen gemeinnütziger Institutionen Arbeitsleistungen zu erbringen. So kann verhindert werden, dass an sich zu verbüßende Ersatzfreiheitsstrafen auch vollzogen werden müssen.

 

Ebenso ist das Projekt »Frühhilfe« in Wiesbaden zu nennen. Hier wird versucht, durch den Einsatz ehrenamtlicher Mitarbeiter, durch gezielte Betreuung jugendlicher Ersttäter, die durch Kleinkriminalität aufgefallen sind, den Beginn einer kriminellen Karriere zu verhindern.

 

Ziel jeder Kriminalpolitik muss es sein, in einem Geflecht verschiedenster Maßnahmen den Versuch zu unternehmen, die Begehung von Straftaten zu verhindern. Darüber hinaus ist es ein wichtiger Aspekt, die durch Straftaten angerichteten Schäden einzudämmen. Zwei wesentliche Bereiche aus diesem Geflecht sind die Resozialisierung der Täter und die Hilfe für die Opfer. Jede einseitige Betonung ist gefährlich, da Übergewichtung zu einer Verstärkung bereits eingetretener Benachteiligung führen wird. Wer den Kampf für die Opfer mit dem Krieg gegen Kriminelle verbindet, handelt genauso gefährlich wie der, der über der gutgemeinten Hilfe für den Täter die Leiden der Opfer vergisst.

 

Die Hilfen, die Ihr Verein anbietet, unterstützen in breiter Palette die Tätigkeit der staatlichen Institutionen. Sie stoßen mit Ihrer Arbeit in die Lücken hinein, die der Staat bislang gelassen hat.

 

Ich bin der Auffassung, dass dem Staat auch bei der Betreuung von Strafgefangenen und Haftentlassenen Grenzen gesetzt bleiben sollen, um eine Überprofessionalität zu vermeiden und gerade das ehrenamtliche Engagement zu fördern. Denn nur wenn die Arbeit für und mit Strafgefangenen als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden wird, kann die Bedeutung dieses Einsatzes für das Rechtsbewusstsein im ganzen weiter wachsen.

 

Freie lnitiativen sind auch deshalb zu unterstützen, da durch sie schnellere Reaktionen auf veränderte gesellschaftliche Verhältnisse möglich sind und durch den Zusammenschluss engagierter Bürger aus verschiedensten Berufszweigen innovatives Denken erleichtert wird.

In diesem Sinn darf ich Ihnen für Ihre weitere Arbeit viel Erfolg wünschen.

 

 

Grußworte des Vertreters der Landeshauptstadt Wiesbaden, Herrn Dietrich Schwarz

Sehr geehrter Herr Zilcher, meine Damen und Herren,

als Leiter des Amtes für Jugend, Soziales und Wohnen überbringe ich Ihnen zum 50jährigen Bestehen des Vereins für Straffälligenhilfe die Grüße unseres Oberbürgermeisters und möchte Ihnen in seinem Namen den Dank der Stadt für die von Ihnen in den zurückliegenden Jahren geleistete Arbeit aussprechen.

 

Straffälligkeit - zumal eine längere Freiheitsstrafe - ist für den Betroffenen mit einem tiefen Eingriff in seine Lebensgeschichte verbunden. Strafhaft kann dazu führen, dass der Strafgefangene seine menschlichen und sozialen Bindungen verliert und dass seine berufliche Lebensgrundlage zerstört wird. Bei jugendlichen Strafgefangenen ist der Aufbau einer eigenen Existenz gefährdet. Unser aller Bemühen muss deshalb darauf gerichtet sein, dem Strafgefangenen nach Verbüßung seiner Strafe die Wiedereingliederung in das gesellschaftliche Leben zu ermöglichen. Häufig beginnt die schwierige Zeit für Straffällige erst nach ihrer Haftentlassung. Unsere Aufgabe ist es daher zu verhindern, dass der Straffällige über die Dauer seiner Strafhaft hinaus für das von ihm begangene Unrecht büßen muss. Der strafende Staat hat auch eine Verpflichtung gegenüber dem Bestraften als Sozialstaat. Daraus leitet sich der gesetzliche Auftrag ab, Straffälligen bei der Wiedereingliederung in das normale Leben mit Mitteln der Sozialhilfe und mit Unterstützung von Bewährungshilfe, Jugendgerichtshilfe und Sozialdienst zu helfen.

 

Wir, die Stadt, sind in diesem Bereich aber auf das bürgerschaftliche Engagement, auf die tatkräftige Unterstützung und die menschliche Zuwendung gegenüber Straffälligen angewiesen. Ehrenamtliche Tätigkeit kann helfen, wo staatliche Hilfe versagt. Die Mitglieder des Vereins für Straffälligenhilfe Wiesbaden haben auf diesem Gebiet Vorbildliches geleistet. Dafür gebührt Ihnen Dank und Anerkennung.

 

 

Grußworte des Vertreters des Diak. Werkes in Hessen und Nassau, Herrn Hubertus Röhrig

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

Sie feiern heute das 50jährige Bestehen Ihres Vereins für Straffälligenhilfe Wiesbaden e.V. und haben mich als Vertreter des Diakonischen Werkes, als den großen Bruder, wie Sie es in Ihrem Brief, Herr Zilcher, genannt haben, eingeladen und gebeten, ein Grußwort zu sprechen. Ich tue dies gern, auch in der  gebotenen Kürze, freue mich darüber, muss aber doch sagen, dass uns da mit dem »großen Bruder« ein bisschen viel der Ehre angetan wird. Aber die brüderliche Verwandtschaft möchte ich in zweierlei Hinsicht gern hervorheben und bestätigen.

 

Zum einen - die seit vielen Jahren praktizierte enge, vertrauensvolle, auch gegenseitige, ergänzende, eben brüderliche Zusammenarbeit zwischen Ihrem Verein und dem Diakonischen Werk. Es verbindet uns die gleiche Zielsetzung, dem Strafgefangenen, der sich in einer einschneidenden Lebenskrise und am Scheideweg seiner Entwicklung steht, Beratung und konkrete Hilfestellung bei der Suche nach einer neuen Lebensperspektive anzubieten.

 

Zum anderen haben unsere beiden Institutionen, bei uns zumindest dieses Arbeitsgebiet, den gleichen geistigen Gründervater, Theodor Fliedner, übrigens geboren in Eppstein, ein großer Mann der Diakoniegeschichte durch die Gründung des Kaiserswerther Diakonieverbandes. Für uns, vor allem, war er es, der aus seiner Bestürzung über die »wenig auf Besserung angelegten Verhältnisse im Düsseldorfer Arresthaus«, wie es im evangelischen Soziallexikon heißt, mit namhaften Persönlichkeiten des kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens, die Rheinisch-Westfälische Gefängnisgesellschaft gegründet und trotz größter Widerstände die erste »Asylanstalt für entlassene Mädchen« als der Urzelle des Kaiserawerther Diakonissenhauses, eingerichtet hat. Somit kann Fliedner als einer der Begründer der kirchlichen Straffälligenhilfe und als Gründer der Vereine für Straffälligenhilfe als unser gemeinsamer geistiger Urvater angesehen werden.

 

Auf diesem gemeinsamen Hintergrund darf ich Ihnen brüderliche Glückwünsche zu diesem Tag aussprechen, Ihnen für die Arbeit weiterhin viel Erfolg und Gottes Segen wünschen und schließlich hoffen, dass es immer gelingen möge, für den Verein so engagierte verantwortungsbewusste Persönlichkeiten zu finden, die ihn tragen und weiterentwickeln wie bisher.

 

 

Dr. Walther P. Dorbritz, Ltd. Oberstaatsanwalt i. R.: Rückblick auf Entwicklung und Arbeit des Vereins

Herr Staatssekretär, Herr Landgerichtspräsident, Herr Leitender Regierungsdirektor, meine Damen und Herren!

 

Wir leben in einer Zeit der Jahreswiederkehren. Das Wort »Jubiläen« möchte ich lieber vermeiden, denn nicht immer gab es uneingeschränkten Grund zum Jubeln. Im vergangenen Jahr jährte sich zum 40. Male das Ende des Zweiten Weltkrieges, ein Gedenken, das hierzulande zwiespältige Gefühle wachrief. In diesem Jahr, 1986, gibt es wieder etwas 4ojähriges zu feiern. Wir blicken auf 40 Jahre hessische Landesverfassung zurück. Außerdem erinnern wir uns in diesem Jahre des 200. Todestages Friedrichs des Großen und des 600 jährigen Bestehens der Universität Heidelberg. Und wir gedachten schließlich der 50. Jahreswiederkehr der Olympiade, die vom 1. bis 16. August 1936 in Berlin stattfand; wiederum ein zwiespältig bewertetes Geschehen.

 

In dieses Jahr 1936 fällt nun auch das Gründungsjahr unseres kleinen Vereins. Es war dies ein Jahr mit Ereignissen von historischer Tragweite:

  • Am 7. März marschieren Truppenkontigente der deutschen Reichswehr in das entmilitarisierte Rheinland ein (alte Wiesbadener werden sich erinnern!); anschließend Auflösung und am 29. März Wiederwahl des Deutschen Reichstages.
  • Anfang Mai: Ende der Kämpfe in Abessinien, Einmarsch der italienischen Truppen in Addis Abeba, Haile Selassie flieht.
  • 18. Juni: Beginn des spanischen Bürgerkrieges mit der Erhebung der nationalen Truppen unter General Franco in Spanisch-Marokko, die spätere »Legion Condor« kommt ihm zu Hilfe.
  • Im August beginnen in Moskau monströse Schauprozesse zur Ausschaltung der parteiinternen Opposition, der sogenannten »Trotzkisten«.
  • 1. November: Mussolini prägt den Begriff der »Achse« Rom-Berlin; daher dann »Achsenmächte«;
  • Am 17. November kommt die Großoffensive der Franco-Truppen auf Madrid - dank vor allem des Eingreifens Sowjet-Rußlands – zum Erliegen, so dass sich der spanische Bürgerkrieg um fast zwei Jahre verlängert.

 Gewiss steht die Gründung unseres Vereins zu Rang und Bedeutung dieser historischen Ereignisse in keiner Beziehung und in keinem Verhältnis. Trotzdem braucht es kein Zufall zu sein, wenn der Verein gerade im Jahr 1936 gegründet wurde. In jener Zeit beobachten wir nämlich in der deutschen Rechtspolitik eine gewisse Bewegung in der Diskussion um die Ausgestaltung des Strafvollzuges, die sich allerdings sehr bald auf den Jugendstrafvollzug konzentriert. Es ist ein Umdenken im Gange. In einem wissenschaftlichen Rückblick aus dem Jahre 1937 hört sich das verschämt wie folgt an: »Es mag sein, dass nach der Machtübernahme mancher der Meinung war, die Reform des Strafvollzuges werde sich lediglich in einer auf dem reinen Abschreckungsgedanken aufgebauten Verschärfung des Vollzuges der Freiheitsstrafen äußern ... « - Nein, es solle nun anders werden. Die nationalsozialistische Strafvollzugsreform bekenne sich neben dem Abschreckungsgedanken ausdrücklich gleichzeitig zum Erziehungsgedanken. Es gab dazu eine gewisse Vorgeschichte: Im August 1935 hatte in Berlin der X. Internationale Kongress für Strafrecht und Gefängniswesen stattgefunden. Man höre und staune: In einer der Sektionen dieses Kongresses wurden Fragen behandelt wie diese: »Ist es wünschenswert, Heime für Entlassene zu schaffen? Wie wären sie einzurichten?« und es wurden Antworten gegeben wie diese: »Die Strafentlassenenfürsorge ist notwendig für die Rehabilitation der Entlassenen.« Wir würden heute Resozialisierung sagen. Der Begriff geht aber weiter. Man sieht: alles schon unsere heutigen Gedanken und Probleme. In der Jahresversammlung des Deutschen Reichsverbandes für Gerichtshilfe, Gefangenen- und Entlassenenfürsorge im Oktober 1935 in Düsseldorf war u. a. wiederum die Rede - so wörtlich - vom »Recht und der Pflicht, sich um die Straffälligen zu kümmern.« Das alles nimmt dann - wie schon gesagt in Richtung Jugendstrafvollzug - Formen an in einer Gemeinschaftsarbeit von Strafanstaltsleitern, die unter dem Titel »Gedanken über Strafvollzug an jungen Gefangenen« im Jahre 1936 - also unserem Jahre - herausgegeben wurde und ebenfalls Ausführungen über Fürsorge für die Zeit nach der Entlassung enthält, die dann in einem ganzen Abschnitt einer diese Entwicklung abschließenden AV des Reichministers der Justiz vom 22. Januar 1937 mit vielen Paragraphen ihren Niederschlag findet.

 

Nach allem wird man wohl nicht fehlgehen, wenn man die Gründung unseres Vereins in Zusammenhang stellt mit der damaligen allgemeinen, überregionalen Hinwendung zum Erziehungs- und Fürsorgegedanken im und nach dem Strafvollzug. Und so lässt ja auch das im Vereinsregister erhalten gebliebene Gründungsprotokoll vom 3. März 1936 durchaus erkennen, dass die Gründungsversammlung nicht eigentlich das Ergebnis einer zufälligen privaten Initiative gewesen sein dürfte, als vielmehr Teil einer zentraleren Aktion. Denn das ist auffällig: Die Spitzen der örtlichen Justiz - es gab ja damals kein Justizministerium in Wiesbaden, die Justiz war Reichsjustiz - folgen allesamt wie gehorsame Diener einem Ruf, der von der Gefängnisverwaltung übermittelt wird.

 

Im Gründungsprotokoll lesen wir:

»Im Auftrag des 1. Vorsitzenden der Rhein-Mainischen-Gefängnis-Gesellschaft - Herrn Strafanstaltsdirektor Haensel in Frankfurt a. M.-Preungesheim – waren durch den Strafanstaltsvorsteher Naumann in Wiesbaden auf heute 11 Uhr im Gerichtsgebäude, Zimmer 92, Einladungen an interessierte Persönlichkeiten, die inzwischen auch als Mitglied aufgenommen wurden, zur Gründung eines Gefängnisvereins für den Landgerichtsbezirk Wiesbaden ergangen.

 

Erschienen waren:

1. Landgerichtspräsident Pfeil,

2. Oberstaatsanwalt Meißner,

3. Amtsgerichtspräsident Lutterbeck,

...

6. Vorsitzender der Rhein-Mainischen-Gefängnis-Gesellschaft, Strafanstaltsdirektor Haensel, Ffm.-Preungesheim,

...

9. Caritas-Direktor Dr. Hüfner

10. Pfarrer der Marktkirche Borngässer,

11.Stadtpfarrer Wolf,

...

22. Strafanstaltsvorsteher Naumann,

...

 

Nach Eröffnung der Gründungsversammlung und Begrüßung der erschienen Mitglieder erteilte Vorsteher Naumann dem 1. Vorsitzenden der Rhein-Mainischen-Gefängnis-Gesellschaft das Wort.

 

Herr Strafanstaltsdirektor Haensel sprach über die Bedeutung der Gefangenenfürsorge und ihre Organisation im heutigen Staate. Im Anschluss daran wurde der Vorstand des Gefängnisvereins in Wiesbaden auf Vorschlag bestimmt und zwar:  Vorsteher Naumann als Vorsitzender.

 

Außerdem wurden noch zwei Beisitzer - als beratende Mitglieder - und zwar einer von der bisherigen evangelischen und einer von der katholischen Gefangenenfürsorge vom Vorsitzenden in den Vorstand berufen.

 

So jedenfalls ist unser Verein entstanden, damals unter dem Namen »Gefängnisverein für den Landgerichtsbezirk Wiesbaden«, und man muss nach den gesamten Umständen diesen »Gefängnisverein« - wie schließlich auch der Name zeigt - als eine eindeutig dem Strafvollzug zugeordnete Organisation begreifen. Welches nun die Aktivitäten dieses Vereins bis zum Anbruch der neuen Zeit gewesen sind, ist aus den Annalen - sprich Vereinsregister Wiesbaden - nicht zu ersehen. Ob die alsbald kriegsbedingte, zunehmend anormale allgemeine Lage überhaupt noch einen nennenswerten Spielraum für ein Tätigwerden zuließ, ist nicht bekannt.

 

Erst nach dem Kriege fließen wieder Informationen, Und zwar schon recht bald: am 16. November 1945 treffen sich im Gerichtsgefängnis eine Reihe Wiesbadener Bürger, nunmehr offensichtlich aufgrund privater Initiative, zu einer - wie es im Protokoll heißt - Besprechung, »um einen neuen Verein zu gründen«. Zu diesem Personenkreis gehören zwei Wiesbadener Ärzte, der Nervenarzt Dr. Mörchen und Dr. med. Isaak Feuerstein, der an späteren Vorstandssitzungen als Vertreter der jüdischen Kultusgemeinde teilnehmen wird, aber auch der Ihnen vielleicht noch bekannt gewesene Pfarrer Thiemens von der Lutherkirche sowie der damalige Anstaltsvorsteher Krellenberg und andere. Man beschließt, dem neuen Verein den Namen »Verein für Gefangenenfürsorge im Landgerichtsbezirk Wiesbaden« zu geben. Einige Monate später präzisiert dann dieser Personenkreis auf seiner Zusammenkunft am 15. Juli 1946, dass, wenn auch der frühere Verein als eine dem damaligen System gleichgeschaltete Einrichtung nicht mehr als bestehend angesehen werden könne, gleichwohl der neue Verein als eine Fortsetzung des früheren Vereins dem Amtsgericht zu melden sei. Diese Formulierungen aus dem Jahre 1946 haben die Grundlage für die Entscheidung des heutigen Vorstandes gebildet, dass es gerechtfertigt sei, das 50-jährige Bestehen unseres mittlerweile in »Verein für Straffälligenhilfe« umbenannten Vereines im Jahre 1986 zu begehen, oder etwas anders ausgedrückt: in diesem Jahre das 5üjährige und nicht etwa das 40-jährige Vereinsbestehen zu feiern. Es muss trotzdem gesagt werden, dass diese letzten 40 Jahre, also die Zeit nach dem Kriege, die eigentliche Geschichte unseres Vereins bilden. Sie erst sind angefüllt mit Leben, und die Chronik verzeichnet mehr als nur eine Gründungsveranstaltung und dann Schweigen. Je mehr sich die Geschichte dem heutigen Datum nähert, umso zahlreicher sind diejenigen unter Ihnen, die sie mindestens teilweise miterlebt haben. Ich möchte Sie deshalb nicht mit dem chronologischen Aneinanderreihen von Einheiten langweilen, sondern eher einen zusammenfassenden Rückblick wagen. Immerhin kann auch ein zusammenfassender Rückblick nicht daran vorbeigehen, dass sich die Entwicklung unseres Vereins in Abschnitten vollzogen hat. Sie sind naturgemäß gekennzeichnet von der Person des jeweiligen Vorsitzenden. Lassen Sie mich aber, bevor ich hierauf eingehe, einer Persönlichkeit gedenken, deren über fast vier Jahrzehnte hinweg gleichbleibende Mitarbeit sich als unschätzbares kontinuierliches Element erwies, wie eine die verschiedenen Zeitabschnitte verbindende Klammer. Es ist unsere verehrte Frau Charlotte Koenig, die am 7. Mai 1947 zur Schriftführerin gewählt worden war und, bei jeder Vorstandswahl wiedergewählt, diese Funktion bis zu ihrem Tode am 25. September 1985 innehatte. Schriftführerin ist eigentlich zu wenig gesagt; sie versah zahlreiche Aufgaben im Verein, auch subalternerer Art. Sie war zuletzt Schriftführerin und Geschäftsführerin in einem. Ihren Verlust hat der Verein noch nicht ausgeglichen; ein Ersatz ist bisher noch nicht gefunden. Doch zurück zum Thema.

 

Auf den schon erwähnten Nervenarzt Dr. Mörchen folgte Landgerichtspräsident a. D. Dr. Max Warmbrunn, der im April 1950 zum Vorsitzenden gewählt wurde und zehn Jahre lang den Verein leitete. Nach seinem Tode wurde 1960 der ebenfalls schon erwähnte Pfarrer Thiemens zum Vorsitzenden gewählt, der aber alsbald erkrankte, so dass praktisch der stellvertretende Vorsitzende, Oberstaatsanwalt Dr. Rahn, mein Vorgänger im Amt des Leiters der Staatsanwaltschaft Wiesbaden, die Geschäfte führte. Im April 1963 ließ sich dann Pfarrer Thiemens seiner schlechten Gesundheit wegen entbinden. Und während Herr Dr. Rahn die Behörde der Staatsanwaltschaft in Frankfurt übernahm, wurde zum nunmehrigen Vorsitzenden Landgerichtsrat Rolf Ecker gewählt. Herr Ecker, ehedem Staatsanwalt, war Mitglied einer Strafkammer und außerdem zum Vorsitzenden eines hochrangigen Ausschusses, des sogenannten Parole-Ausschusses für Hessen ernannt. Das war eine amerikanische Einrichtung, in welcher das amerikanische Parole-System angewandt wurde, Vorbild für das dann ins deutsche Strafrecht eingeführte Institut der bedingten Entlassung aus der Strafhaft bzw. der Aussetzung eines Strafrestes auf Bewährung. Insofern war also Herr Ecker gewissermaßen für den Vorsitz unseres Vereins prädestiniert. Nach sechs Jahren, 1969, wollte dann Herr Ecker aus dringenden persönlichen Gründen vom Vorsitz entbunden werden und beschwor mich, seine Nachfolge anzutreten. Man muss wissen, dass dazumal die Mitglieder des Vereins wenig Kontakt untereinander hatten. Sie und auch der Vorstand traten nur ein einziges Mal im Jahr zusammen. Fraktionsbildungen waren unbekannt. So genügte die Erklärung der Bereitschaft zur Übernahme des Vorsitzes, um durch Akklamation gewählt zu werden.

 

Es begann nun eine für die Finanzlage und damit die Wirkungsmöglichkeiten des Vereins einmalig glückliche Entwicklung: das Vereinsvermögen stieg von etwa 45.000,- DM Anfang 1969 auf annähernd 120.000,- DM im Jahre 1972 an. Das war nun weniger der Rührigkeit des Vorstandes als vielmehr einer außergewöhnlichen Konstellation im Strafvollstreckungs- und Gnadenwesen zu verdanken. Nach dem grundsätzlichen Wegfall der kurzen Freiheitsstrafen und anderen Reformen, die das Erste Strafrechtsreformgesetz vom 22. 6. 1969 brachte, mussten für die Strafentscheidungen aus der Zeit vor diesen Gesetzesänderungen im Gnadenwege Konsequenzen aus der neuen Rechtslage gezogen werden, was zu massenhaften Bewährungsaussetzungen unter Bußauflagen führte, von denen unser Verein damals angesichts seines Ansehens bei der Justiz beachtlich profitieren konnte. In dieser Zeit - am 14. Mai 1971 - stießen dann auch Sie, Herr Professor Dr. Busch, als Mitglied zu unserem Vereinsvorstand und haben insofern in der Jahres-Mitgliederversammlung am 3. Juli 1972 auch an der Verabschiedung der ersten wichtigen Satzungsänderungen mitgewirkt, die das veraltete System, über die Erneuerung des Vorstands durch das Los entscheiden zu lassen, durch das System regulärer Wahlperioden ersetzten und die Aufnahme zur Mitgliedschaft neu regelten. Schneller als gedacht führten diese demokratischen Erneuerungen zu einer vielleicht gesunden Unruhe. Neue Mitglieder wurden geworben, und am 19. Juni 1975 wurde dann die Wahl zum Vorsitzenden von dem Richter am Amtsgericht Wiesbaden Herrn Rüdiger Hanisch gewonnen, was als Wende zu verstehen war. Seine Rolle war freilich nur eine kurze: schon am 26. Mai 1976 legte er Vorsitz und Mitgliedschaft nieder, so dass der bisherige stellvertretende Vorsitzende Bewährungshelfer Erwin Baumann nachrückte, der in der Folgezeit wiederholt zum Vorsitzenden gewählt wurde. So begann die achtjährige Ära Baumann.

 

Ich werde später noch auf das hier Geleistete zurückkommen. Herr Baumann hat dann nach Erreichung der Altersgrenze Wiesbaden verlassen, und dies bedingte eine neue Zusammensetzung des Vorstandes in der Wahl am 8. Mai 1984. Mit ihr schließt sich der Ring: wieder wie vor 50 Jahren ruht der Vorsitz heute bei einem ranghohen Beamten der örtlichen Justizverwaltung.

 

Man könnte einwenden, dass es eine unzulässige Vereinfachung darstelle, die Geschichte des Vereins in Zeitabschnitte zu gliedern, die sich an den Amtsperioden der Vorsitzenden orientieren. Denn in den jeweiligen Vorständen haben auch andere Damen und Herren z.T. sehr aktiv und aufopferungsvoll mitgearbeitet. Es würde aber diesen Rahmen sprengen, hier alle Namen aufzählen zu wollen, und ich muss mich darauf beschränken, derjenigen Vorstandsmitglieder zu gedenken, die im Verlauf der letzten Jahrzehnte festgehaltenermaßen verstorben sind: Herr Ecker, als Vorsitzender Richter i. R. verstorben 1976, Herr Staatsanwalt i. R. Hochstrate, langjähriger stellvertretender Vorsitzender und Geschäftsführer, verstorben 1977, Rechtsanwalt Dittmar, verstorben 1982, und unsere gute Frau Koenig, die im vergangenen Jahr verstarb.

 

Nach diesem kursorischen Überblick über die Entwicklung des Vereins in seinen einzelnen Etappen gestatten Sie mir noch einen kurzen Rückblick speziell auf die zurückliegende Arbeit des Vereins. Befürchten Sie dabei nicht, dass ich vorhätte, Ihnen hier einen Leistungsnachweis zu erbringen. Dies geschieht in den Jahres- und Kassenberichten, die der jeweilige Vorstand vorlegt. Ich möchte vielmehr auf das »Wie« unserer Vereinsarbeit eingehen.

 

Zum »Wie« gehört zunächst das »Wo«. Sie sind es nicht anders gewöhnt, als dass der Verein seinen Sitz in der Justizvollzugsanstalt Holzstraße hat; dort befindet sich sein Geschäftszimmer, dort werden die Mitgliederversammlungen und die Vorstandssitzungen abgehalten. Das war nicht immer so. Vor Kriegsende dürfte der Verein seinen Mittelpunkt in der alten Straf- und Untersuchungshaftanstalt Albrechtstraße gehabt haben. Nach dem Kriege fanden die Zusammenkünfte von Mitgliedern und Vorstand zunächst weiterhin in dieser Anstalt und später, wie ich schon andeutete, im Gemeindesaal der Lutherkirche Wiesbaden statt und das Schriftgut wurde, nachdem Frau Koenig unsere Schriftführerin geworden war, an ihrem Arbeitsplatz verwaltet. Als Angestellte im Vollzugsdienst hatte sie ja ihren Schreibtisch in der Strafanstalt Albrechtstraße. Es ergaben sich dann Probleme, als diese Anstalt am 31.12.1970 geschlossen wurde. Damals hat während einer Übergangszeit von etwa einem Jahr unser Schriftgut in einem ärmlichen Spind in einem Saal des Landgerichtsgebäudes verwahrt werden müssen, bis dann Anfang 1972 ich bei Ihnen, Herr Prof. Dr. Busch, die schriftlich nie fixierte Vereinbarung habe treffen können, dass unser Verein in der damals von Ihnen geleiteten Jugendstrafanstalt eine Heimstatt finden sollte. Es war dies zwar zeitweilig keine optimale Lösung: die Klage wurde laut, das sich die Anlaufstelle auch für entlassene Strafgefangene wiederum im »Knast« befinde, anstatt frei zugänglich irgendwo im inneren Stadtgebiet. Hierüber ist nicht selten diskutiert worden. Aber die Kapazität des Vereins erlaubte einfach nichts anderes. Und ohne diese Sesshaftwerdung in der JVA, das muss gesagt werden, wäre es dem Verein wahrscheinlich nicht möglich gewesen, sich später so zu entfalten, wie er es konnte. Der Dank dafür, der sich ja letztlich - vertreten durch den Hessischen Minister der Justiz – an das Land Hessen zu richten hat, ist ja immer wieder, in Jahresberichten und Rundschreiben, vom jeweiligen Vorstand ausgesprochen worden.

 

Und nun lassen Sie mich noch kurz auf das eigentliche »Wie« unserer Vereinsgeschichte zu sprechen kommen. Als ihr Herzstück wird man die Mitgliederversammlungen und die Vorstandssitzungen bezeichnen können. Noch zeittreibender dürfte dagegen die Arbeit »hinter den Kulissen« gewesen sein: das Festhalten der Abläufe in Protokollen, die Umsetzung der gefassten Beschlüsse, dies auf die vielfältige Weise und in vielfältigsten Formen: Kontaktaufnahme nach außen, insbesondere Korrespondenzen, Geldtransfere, Anschaffungen, Ausgabe von Gutscheinen, dazu traten dann die Verbuchungen, die Verwaltung des Schriftgutes und nicht zuletzt die jährlichen Buch- und Kassenrevisionen durch die gewählten Revisoren usw. Auch die Kontaktpflege zu anderen gleichgerichteten Organisationen gehört hierher, nicht zuletzt zum Landeszusammenschluss für Straffälligenhilfe in Hessen mit Sitz ehedem in Frankfurt/M., jetzt in Kassel.

 

Vielleicht wird es Sie interessieren zu hören, dass in den vergangenen 12 Jahren nicht weniger als 116 Vorstandssitzungen abgehalten wurden. Das bedeutet fast jeden Monat eine Sitzung, und zwar von jeweils zwei bis drei Stunden Dauer und mit im Durchschnitt fünf bis sieben Anwesenden. Gerade hieran zeigt sich, dass sich der Umfang der Aktivitäten des Vereins geradezu explosionsartig gegenüber den ersten Jahren des Vereinsbestehens erweitert hat, in denen, wie ich schon sagte, der Vorstand nur einmal im Jahr zusammentrat.

 

Die Meinungen darüber mögen auseinandergehen, ob der Aufwand wirklich gerechtfertigt war. Sie wollen aber bedenken, dass der Verein eben in den letzten Jahren einmalige Aufbauleistungen an sich selbst vorgenommen hat: die Satzung wurde viermal geändert, wobei sich der Verein, entsprechend seiner erweiterten Aufgabenbereiche, am 19. Juli 1977 einen neuen, seinen jetzigen Namen gab. Eine Geschäftsordnung des Vorstandes wurde erarbeitet, und welche Zeit die Diskussionen über solche Dinge in demokratischen Gebilden verschlingen, weiß jeder. Hinzu trat eine ebenfalls über die Tagesarbeit deutlich hinausgehende Leistung: nämlich die Erarbeitung eines bestimmten Modus, eines Systems bzw. Verfahrens, um auf einem als zentral empfundenen Aufgabengebiet nach jahrelangen bitteren Erfahrungen jedenfalls zu einer einigermaßen akzeptablen Lösung zu gelangen. Ich spreche damit das Problem der übergangsweisen Unterbringung entlassener Strafgefangener an, ein uraltes Problem, schon im Gründungsjahr unsers Vereins behandelt, wie ich eingangs andeutete. Was auf diesem Gebiet in zäher Verbissenheit vom Verein alles an Anstrengungen unternommen und was schließlich erreicht oder besser gesagt nicht erreicht worden ist, grenzt an eine Tragödie. Das der Verein nach finanzieller Ausstattung und Kapazität nicht im Entferntesten in der Lage sein würde, etwa in eigener Regie Betriebenes anzubieten, war schon 1972 nach einem Fehlschlag klargeworden. Man konnte nur hoffen, sich an den Unternehmungen anderer Träger beteiligen zu können. Am enttäuschendsten waren die Hoffnungen, die auf die Stadt Wiesbaden gesetzt wurden. Drei erwogene Projekte kamen nicht zustande, was natürlich seine guten Gründe hatte. Aber auch die Erfahrungen mit anderen Trägern waren unbefriedigend. Z.B. war die Ausstattung einer vom Verein »Förderung der Bewährungshilfe in Hessen« betriebenen Übergangsunterkunft mit Möbeln für DM 15.000,- ein Fehlschlag. Heute hat der Förderungsverein Erfahrungen gesammelt. Damals, 1975, wurde die Wohngemeinschaft wieder aufgelöst; die Möbel mussten erst eingelagert und dann verschenkt werden. Am besten und positivsten waren noch die Erfahrungen mit der Heilsarmee; aber die langjährige Zusammenarbeit hat infolge der z. Zt. im Gang befindlichen baulichen Veränderungen des Heimes in der Schwarzenbergstraße fürs erste nun auch wieder ihren Abschluss gefunden. Somit kristallisierte sich als einzig reale Möglichkeit, um der Unterbringung entlassener Strafgefangener zu dienen, die Gewährung von Mietdarlehen bzw. Mietkautionen heraus, um ein einigermaßen befriedigendes System zur Durchführung dieser selbstgestellten Aufgabe zu entwickeln: Richtlinien wurden erarbeitet und erprobt, ein permanenter Bewilligungsausschuss wurde gebildet. Die Entwicklung dieses Systems ist vor allem ein persönliches Verdienst des letzten Vorsitzenden Herrn Baumann gewesen, der in seiner Eigenschaft als Bewährungshelfer wertvollste Anregungen dazu von seinen Kollegen erhielt, nicht zuletzt aufgrund ihrer Erfahrungen in der ihnen obliegenden Betreuung der Entlassenen, die mit dem zur Verfügung stellen von Mietraum notwendigerweise einhergehen muss. Aber nicht nur diese über die Tagesarbeit hinausgehenden besondersartigen Anstrengungen haften in den letzten Jahren das Arbeitsvolumen des Vereins beträchtlich erweitert. Auch in der sogenannten Tagesarbeit als solcher ist ja die Beanspruchung des Vereins zunehmend angestiegen. Nach dem Kriege stand bis weit nach der Währungsreform allein die materielle Hilfe im Vordergrund, um den notwendigen Lebensbedarf der entlassenen Strafgefangenen kurzfristig zu decken: Gutscheine wurden ausgegeben für Lebensmittel, für Kohlen und Brennholz, für Kleidung und Schuhreparaturen usw., Übernachtungsgelder wurden gezahlt oder andere Übergangsgelder oder Fahrkarten usw. Das ist anders geworden. Aber auch mit Weihnachtszuwendungen für die Gefangenen und der Übernahme von Fahrkarten, die beibehalten wurden, jetzt mehr zur Familienzusammenführung und Arbeitssuche, ist es allein heute nicht getan.

 

Hören Sie nur noch einmal, was alles so im Verlaufe vieler Jahre auf den Verein an Anträgen zugekommen ist. Da wurde der Wunsch vorgetragen, für die Vollzugsanstalt Turngeräte anzuschaffen, oder Lampen, oder Bücher, oder Gesellschaftsspiele oder Plattenspieler oder einen Kassettenrekorde oder ein Klavier, oder ein Tischfußballgerät oder eine Sauerstoffpumpe fürs Aquarium. Oder es Wurde um Zuschüsse gebeten für Theatervorführungen für die Unkosten, die bei Vorträgen entstanden waren für die Anlage eines Sportplatzes für die Ausstattung von Sportfesten für Mal- und Zeichenkurse samt Material (sogenanntes »kreatives Training«) für die Einrichtung eines Fotolabors und Folgekosten, für einen Verkehrsunterricht für Sportunterricht (das ist jetzt vorbei), für Kochkurse und hierfür die Einrichtung einer Küche, für Gitarren und Gitarrenunterricht für Analphabetenkurs zeitweilig für die Herausgabe einer hauseigenen Gefangenenzeitung für den Bezug italienischer und türkischer Zeitungen für ausländische Gefangene usw. Sodann gingen Bitten ein um finanzielle Unterstützung von sogenannten »Freizeiten« mit Gefangenen z.B. in Brebbia/Italien in Melsungen im Schwarzwald (Ski-Freizeit) - alles kirchliche Veranstaltungen. Ferner hatte sich der Verein mit Wünschen von ehrenamtlichen Helfern in der Vollzugsanstalt zu befassen, die ja z.T. Mitglieder unseres Vereins sind. Da ging es dann um Fahrtkosten und um Unkostenpauschale für die Gruppenleiter aus Anlass der Teilnahme an einem Wochenendseminar oder einer Tagung usw. Oder man wurde konfrontiert mit den Anträgen einzelner Gefangener auf finanzielle Unterstützung. Da hätte z.B. der eine gerne sein Gebiss saniert bekommen, ein anderer wollte Berufsfahrer werden und hätte gerne schon während der Strafverbüßung Fahrstunden nehmen und seinen Führerschein machen wollen, einem Dritten kam es auf einen Fernlehrgang an, um das Abitur zu machen, usw. Und auch aus der Ecke der Bewährungshilfe sprudelten die Gedanken, wie mit Hilfe des Vereins die Situation von Probanden zu erleichtern und ihre zu stärken seien - bis hin etwa zu dem Vorschlag der Anschaffung von Fernsehgeräten zum Verleihen.

 

Sie, meine Damen und Herren, wird die geballte Optik einer solchen Aufzählung nicht dazu verleiten zu meinen, dass derartige Anträge größtenteils unangemessen gewesen seien und man es sich daher mit ihnen hätte leicht machen können. Sie wissen, dass das Gegenteil der Fall ist, weil Sie sich klar sind, dass es ja gerade Zielsetzung und Zweck des Vereins ist, den Gefangenen und Entlassenen und den Familien von Straffälligen in jeder Hinsicht zu helfen, vor allen den Gefangenen in Bezug auf ihre allgemeine und berufliche Fortbildung, auf ihre körperliche Auslastung und evtl. Ertüchtigung und nicht zuletzt auf ihre frühzeitige Orientierung zur Außenwelt; denn die jungen Gefangenen, mit denen wir es in Wiesbaden zu tun haben, dürfen ja im Vollzug nicht verkommen und verstumpfen, sondern sollen fähig werde,n sich einmal in der Freiheit zurechtzufinden, ohne rückfällig zu werden - nicht allein zu ihrem eigenen Vorteil, sondern zur Eindämmung der Straffälligkeit überhaupt und damit zum Nutzen der Allgemeinheit. Und weil Sie das wissen, werden Sie ermessen, dass Anträge von der Art, wie ich sie aufgezählt habe, eben nicht im Schnellverfahren ablehnend erledigt werden konnten. Jeder Antrag hat vielmehr eine sorgfältige Prüfung erfordert, auf jeden Antrag musste eine ausgewogene Entscheidung getroffen werden, zu der es mitunter zeitraubendster Beratungen bedurfte. Und dass dies zu einer empfindlichen Vermehrung der Arbeit führte, leuchtet ein.

 

Und schließlich handelt es sich seit einem reichlichen Jahrzehnt auch gar nicht mehr nur um das Materielle. Als völlig neues Element ist die Betreuung der jungen Gefangenen hinzugekommen, zumeist als Einzelbetreuung von Person zu Person, mitunter auch als Gruppenbetreuung, z.B. im kreativen Bereich. Sie wurde von den mittlerweile an die 60 ehrenamtlichen Helfern wahrgenommen, die sich dem Jugendstrafvollzug zur Verfügung gestellt haben. Etwa 20 von ihnen sind Mitglieder unseres Vereins. Dass diese aufopferungsvolle ehrenamtliche Arbeit in aller Stille vor sich ging und bei uns keinen schriftlichen Niederschlag fand, darf nicht darüber hinwegsehen lassen, dass in ihr auf der Grundlage des persönlichen Engagements unserer Mitglieder ein erheblicher Beitrag zur Leistungsbilanz des Vereins im Ganzen gelegen hat, vorausgesetzt freilich, dass man insoweit, als Vereinsmitglieder ehrenamtliche Hilfe geleistet haben, hierin eine Aktivität des Vereins als solchen erblicken will.

 

Um es zusammenzufassen: Es sind im Wesentlichen also vier Faktoren, die bewirkt haben, dass sich das Arbeitsvolumen des Vereins gegenüber den Anfängen vervielfacht hat: die statutenmäßigen Aufbauleistungen an sich selbst, das Ringen um das Problem der Unterbringung entlassener Gefangener, die inhaltlich kräftig erweiterten punktuellen Ansprüche an die Finanzkraft des Vereins und schließlich das neue Gebiet der immateriellen Gefangenenbetreuung, wenn man dieses Element in die Kompetenz des Vereins einbeziehen will.

 

Um noch einmal auf die Arbeit des Vorstandes zurückzukommen: Ich meine, es verdient auch hervorgehoben zu werden, dass der Vorstand bei seinen Entscheidungen über die an ihn herangetragenen Anträge und Bitten stets zu Ergebnissen gekommen ist, die akzeptiert worden sind und weder pauschal noch in Einzelfällen zu irgendwelchen nennenswerten Beanstandungen geführt haben. Wenn dem Vorstand dies möglich war, so kam ihm dabei die sich mehr und mehr vertiefende Zusammenarbeit mit dem Vollzugsdienst einerseits und der Gruppe der Bewährungshelfer andererseits zugute. Angehörige beider Bereiche sind ja seit langem als Mitglieder in den jeweiligen Vorständen vertreten, was die Zusammenarbeit wesentlich erleichterte, ja geradezu kurzschloss. Das gleiche gilt einschließlich der Vertretung im Vorstand für das Diakonische Werk in Wiesbaden, mit dem deshalb sogar vor einiger Zeit eine Übereinkunft getroffen werden konnte, die Aufgaben einer Anlaufstelle des Vereins mit zu übernehmen. Aus allen jeweils betroffenen Bereichen hat der Vorstand stets, wenn er dies brauchte, Daten, Informationen und Stellungsnahmen erhalten, die ihm seine Entscheidungen ermöglichten, zumindest erleichterten. In diesem Zusammenspiel mit den genannten drei Bereichen liegt denn auch seine Chance für die Zukunft. Mögen ihm die derzeitigen günstigen Bedingungen erhalten bleiben!

 

Ich hatte Ihnen hier einen historischen Rückblick zu vermitteln, und es steht mir nicht an, daraus irgendeine Forderung oder Empfehlung herzuleiten, wie man sich zur Zukunft des Vereins einstellen solle. Ich kann hier unmöglich die Ansicht vertreten, dass die immaterielle Gefangenenbetreuung aus der Betrachtung auszuscheiden habe, weil sie ausschließlich eine Sache des Strafvollzuges sei, dass sich deshalb die Arbeit des Vereins im Wesentlichen eben doch darin erschöpfe, finanzielle Hilfen zu leisten (wo andere Hilfen ausbleiben, wo Lücken sind, insbesondere wo die öffentliche Hand nicht greift), und dass es somit auch nichts Böses sei, wenn andere in dem Verein primär eine nicht unwillkommene Quelle für finanzielle Hilfen sehen. Umgekehrt kann ich mich an dieser Stelle auch nicht zu denjenigen bekennen, die fordern, dass der Verein mehr darstellen müsse, um nur als »Melkkuh« verstanden oder gar missbraucht zu werden, und dass es nicht genüge - um hier einmal unseren letzten Vorsitzenden Herrn Baumann zu zitieren - »wenn wir uns lediglich mit der Verteilung der Gelder beschäftigen, sondern es muss dahinter stehen eine klare Motivation, die schöpft aus verschiedenen geistigen Quellen« und es »müsste mehr im Mittelpunkt stehen die Diskussion über geistige Intentionen der Arbeit«. Das sind sehr gegensätzliche Standpunkte, deren Gegenüberstellung, ohne einen davon einzunehmen, auch nur dazu dienen soll zu zeigen, dass über Kompetenz, Wesen und Idee unseres Vereins unter seinem eigenen Dache durchaus unterschiedliche Ansichten möglich und ja auch vorhanden sind. Jeder mag seine eigenen Vorstellungen haben und propagieren, was ihm am Herzen liegt. Vielleicht wird sich eine einheitliche Auffassung herausbilden.

 

Lässt man aber solcherlei mehr theoretische Betrachtungen einmal beiseite, so kann immerhin aus dem gegebenen historischen Rückblick einiges für eine reale Zukunftsperspektive abgeleitet werden, und dazu wäre zusagen: Sicherlich wird die künftige Arbeit des Vereins nach Schwerpunktbildung, Stil und Umfang Schwankungen unterworfen sein, je nachdem welche Persönlichkeiten die Arbeit tragen werden. Und es mögen sich auch diese oder jene Zuständigkeiten als erweiterungsfähig erweisen, wie bereits in der Vergangenheit geschehen, schon wegen der Vorgaben auf hoheitlicher Ebene, die sich ändern können, überhaupt wegen der Abhängigkeit von der Entwicklung draußen.

 

Von der Substanz her indessen - und das muss klar gesehen werden - ist der Tätigkeitsbereich des Vereins nicht auf Wachstum zugeschnitten. Und so dürfte sich als nicht einmal ungünstige Perspektive darstellen, wenn der Verein in aller Stille seine Arbeit in annähernd der gleichen Weise fortführen wird, wie er sie Zuletzt geleistet hat.

 

Dabei wird möglicherweise die Förderung der immateriellen Gefangenenbetreuung in den kommenden Jahren noch breiteren Raum einnehmen. Vielleicht wird es auch notwendig werden, die Geschäftsabläufe zu modernisieren und zu rationalisieren. Es mag auch Höhepunkte geben. Beispielsweise könnten das Öffentlichkeitsveranstaltungen sein, wie wir sie schon hatten, die letzte am 23. Februar 1978 mit Anstaltsleiter Dr. Stark, Hamburg, als Vortragendem. Immer aber wird bei allem viel aufopferungsvolle Arbeit und Kleinarbeit dazu gehören, um die vielfältigen Aufgaben des Vereins zu bewältigen; anders ist es nie gewesen.

 

Sie, meine Damen und Herren, haben es jedenfalls zum größten Teil selbst miterlebt und ich habe Ihnen zusätzlich, obwohl keineswegs erschöpfend, zu schildern versucht, worum es ging; eine kurze Zusammenfassung finden Sie außerdem in dem grünen Faltblatt, das Ihrer Einladung beilag. Wenn Sie die bisher geleistete Arbeit als ersprießlich und positiv bewerten, so ist dies die schönste Ermutigung für den Verein, darin fortzufahren, wie immer seine Perspektiven einzuschätzen sein mögen.

 

Die nächsten 50 Jahre liegen vor uns. So weit vorausschauen kann man nicht, aber man kann sich von ihnen das Beste für den Fortbestand unseres Vereins wünschen und erhoffen!

 

 

Prof. Dr. Max Busch, Universität Wuppertal: Straffälligenhilfe - eine Aufgabe für den Bürger

Wenn ein Verein für Straffälligenhilfe ein Jubiläum feiert, hat dieses Feiern zwei Gesichter: einerseits ist es erfreulich, dass in einer Zeit ständigen Wandels und rasanter Entwicklungen eine sicherlich nicht allzu große und in der Öffentlichkeit oft wenig beachtete Gruppe von Bürgern sich einer weithin unpopulären Aufgabe widmet. Andererseits erfüllt ein solches Jubiläum den Betrachter mit einer doppelten Traurigkeit: einerseits ist es eine betrübliche Tatsache, dass Straffälligenhilfe überhaupt erforderlich ist, dass sie organisiert werden muss. Andererseits ist kritisch festzustellen, dass diese Aufgabe in der Bevölkerung wenig Anklang findet und sich die Mitglieder eines Fürsorgevereins nicht nur hier, sondern an vielen Orten der Bundesrepublik weithin aus "Insidern" rekrutieren. An einem Jubiläumstag ist Anlass zum Rückblick gegeben. Dieser Rückblick ist für den Referenten mit Dankbarkeit verbunden. In den 12 Jahren von 1963 bis 1974 habe ich als Leiter der Jugendstrafanstalt Wiesbaden in vielfacher Hinsicht und immer in großzügiger Weise die Unterstützung und Förderung des Vereins erlebt. In einer Vielzahl von Situationen, in denen staatliche Vorschriften und Fixierungen einengend und behindernd wirksam waren, konnte in Notlagen, die ihrem Wesen nach auch immer in nicht vorhersehbaren Formen ablaufen, geholfen werden. Es war dadurch weder erforderlich, auf Unzuständigkeit oder leider fehlende Vorschriften zu verweisen noch auf künftige rechtliche oder gesellschaftliche Entwicklungen zu vertrösten. Der seinerzeit die Kasse verwaltende ehemalige Staatsanwalt Hochstrate besuchte mich häufig in meinem Büro und überlegte mit mir, welche Hilfen verantwortet und zu leisten wären. Hier waren ein engagierter Bürger, der für die Aufgaben der Straffälligenhilfe durch seine langjährige berufliche Tätigkeit als Jurist sensibilisiert worden war, und ein Beamter der Justizverwaltung, nämlich ein Autorisierter, wenn man so will Staat und Gesellschaft vereint, um Weichen für die positive Entwicklung eines Lebenswegs nach Strafverbüßung zu stellen. Wenn ich heute zu Ihnen zu der Frage »Straffälligenhilfe - eine Aufgabe für den Bürger spreche, so ist dies keine akademische Verzierung eines Vereinsjubiläums, sondern die Reflexion eines Lebensabschnitts auf dem Hintergrund sozialwissenschaftlicher und gesellschaftspolitischer Aspekte.

 

Ist das Thema Straffälligenhilfe überhaupt noch aktuell? Wird nicht die Hilfe für den Straffälligen, für den in aggressiver und herabsetzender Absicht immer noch als »Verbrecher« bezeichneten Strafentlassenen weggeschwemmt von der mächtigen Woge der Opferhilfe? Ist es richtig, wenn uns suggeriert wird, in Zeiten der Rezession und der knappen Mittel könne man vor der Entscheidung stehen, entweder dem Täter oder dem Opfer zu helfen? Wird hier nicht in böser Weise eine Alternative aufgebaut, die mit der Frustration derjenigen arbeitet, denen Strafen nicht hart und intensiv genug sein kann? Ist nicht die Straffälligenhilfe in einen defensiven Rechtfertigungszwang gedrängt, der für sie existenzgefährdend werden kann?

 

Anfang September hat der Herr Bundespräsident Richard von Weizsäcker auf dem Deutschen Juristentag in Berlin zum Thema »Verantwortung für die Stabilität des demokratischen Rechtsstaates« gesprochen. Er hat dabei nicht nur wesentliche Ausführungen zur Position und Problematik des Juristen in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft vorgelegt, sondern die Gelegenheit benutzt, ausführlich zur Straffälligenhilfe zu sprechen. Dies ist umso beachtenswerter, als der Deutsche Juristentag in diesem Jahr Fragen des Strafrechts nur in anderen Bereichen, nämlich bezüglich der Sterbehilfe, behandelte und bezüglich des Strafvollzugs und der Strafvollstreckung keine eigene Sektion bildete. Ich darf aus dieser Rede einige Zitate wiedergeben, die für unser Thema und unser Jubiläum hilfreich und förderlich sein können. Die heute aktuelle und sicherlich prekäre Frage des Verhältnisses von Hilfe für Opfer von Straftaten und Hilfe für Straffällige umschreibt er folgendermaßen: »Nicht allein den Täter hinter Schloss und Riegel verschwinden zu lassen, sondern bei der Erkenntnis und dem Entwicklungsprozess seiner Persönlichkeit zu helfen, bildet auch die dauerhafte Brücke zu der lange Zeit allzu sehr vernachlässigten Sorge um die Opfer von Straftaten.« Hier wird auf die wissenschaftlich nachgewiesene und abgesicherte Erkenntnis zurückgegriffen, dass mit einer konstruktiven, hilfreichen und fördernden Haltung zum Straftäter zugleich die Opferproblematik aufgegriffen wird. Wenn es nämlich gelingt, Rückfall zu verhindern und beim Täter Sensibilität für den Mitbürger zu wecken und zu fördern, werden potentielle künftige Opfer vermindert. Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Resignation gehören zu den Ursachen für die Entscheidung eines Rechtsbrechers, erneut Straftaten zu begehen, auch wenn die verbüßte Strafe als Leiden und Entbehrung durchaus bewusst ist. Hat aber der Täter positive und konstruktive Lebensverhältnisse nach seiner Entlassung zu verteidigen und zu bewahren, wird ihm das Risiko, das er mit erneuten Straftaten eingeht, wesentlich höher und problematischer erscheinen. Straffälligenhilfe ist also zugleich immer auch indirekte, vielleicht oft nicht unmittelbare, aber doch sehr wirksame Opferhilfe.

 

Ist es aber nicht vergebliches Liebesmühen, sich um Straffällige, vielleicht sogar Rückfällige zu kümmern? Ist hier nicht realitätsfernes Wunschdenken mächtiger als die nüchterne Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten? Hierzu sagte der Bundespräsident: »Der Strafvollzug darf aber die Person keines Täters aufgeben. Wichtiger als die Lehre vom Tätertyp ist die Einmaligkeit jeder Person. Jede, auch die, deren Taten die Gesellschaft besonders zu fürchten gelernt hat, hat die Chance auf neue Einsicht und den Anspruch auf unsere Aufmerksamkeit und unsere Hilfe«.

 

Diese klare und eindeutige Position des Herrn Bundespräsidenten, der, wie wir aus vielen Reden von ihm wissen, gesellschaftliche und politische Probleme stets nüchtern und sachlich angeht, kann uns Ermutigung zur Weiterführung unserer Aufgabe sein. Sehr konkret spricht der Bundespräsident gerade von unserer spezifischen Aufgabe: »Die große haupt- und ehrenamtliche Arbeit für und mit Strafgefangenen verdient unsere besondere Achtung und Förderung. Wir sollten uns, zumal die Juristen, immer wieder bewusst machen, welche Bedeutung dieser Einsatz nicht nur im Sozialen inne hat, sondern wie wichtig er für das Rechtsbewusstsein im ganzen ist.« Hier wird unserer Arbeit eine Dimension gegeben, die häufig kaum beachtet wird. Unter einem caritativ-hilfeorientierten Aspekt gerät unser Tun all zu leicht in die Ecke einer belächelten vergeblichen Liebesmühe. Wir könnten uns unter christlichen Aspekten darüber hinwegsetzen und auf den zentralen biblischen Auftrag aus dem Matthäus-Evangelium verweisen, die Gefangenen zu besuchen. Es ist aber eine Tatsache, dass wir nicht mehr in einer eindeutig christlich orientierten Gesellschaft leben, sondern uns bemühen müssen, unserem Tun auch eine andere, von allen Bürgern akzeptierbare Grundlage zu geben. Was meint der Bundespräsident mit seinem Hinweis, dass die Straffälligenhilfe »wichtig für das Rechtsbewusstsein im ganzen ist«? Es geht bei unseren Bemühungen nicht nur um die Hilfe für eine verhältnismäßig kleine und besonders problematische Randgruppe der Gesellschaft. Hier wird nicht nur soziale Flickarbeit durchgeführt. Vielmehr muss festgehalten werden, dass sich Rechtsbewusstsein nicht nur darin äußert, Rechtsgrundsätze und Rechtsgüter zu schützen und den Täter unter rechtsstaatlichen Prinzipien zu bestrafen, sondern, dass auch dem Straffälligen selbst sein Recht werden muss. Wer sein Rechtsbewusstsein nur durch die Empörung über Verbrechen äußert, hat den billigen und einfachen, den vordergründigen und bequemen Weg gewählt, der leider in der Gesellschaft weithin ausschließlich Anerkennung findet. Dass aber ein Rechtsbewusstsein problematisch sein kann, das nur den Schlag mit dem Gegenschlag beantwortet und aus dem Grundsatz Auge um Auge, Zahn um Zahn seine Legitimation entnimmt, dies ist mit dem Satz des Herrn Bundespräsidenten ausdrücklich gemeint. Letztlich muss auch der Täter als Opfer gesehen werden, das unsere Hilfe beanspruchen kann. Es ist dabei noch nicht einmal erforderlich, jedes rechtswidrige Verhalten auf gesellschaftliche Verhältnisse zurückzuführen, so evident dies auch in vielen Fällen sein mag! Durch seine Straftat scheidet der Täter nicht aus unserer Lebens- und Rechtsgemeinschaft aus. Er bleibt Mitglied unserer Gesellschaft auch dann, wenn wir dem allgemein gedankenlos ausgesprochenen Satz folgen sollten, dass sich der Täter durch seine Straftat selbst aus der Gemeinschaft ausgeschlossen habe. Dies kann allenfalls ein negativer Wunsch sein, nicht aber eine reale Gegebenheit darstellen. Um es mit einem aktuellen Beispiel zu belegen: Wir können dem Straftäter nach seiner Entlassung nicht wie einem Wirtschaftsasylanten die Aufenthaltsgenehmigung in der Bundesrepublik verweigern. Er bleibt Mitglied unserer Gesellschaft und muss von uns akzeptiert werden. Eine Rechtsgemeinschaft muss sich in jeder Phase durch ein Rechtsbewusstsein legitimieren, das auch den Straffälligen als Rechtssubjekt anerkennt. Dies, und nicht etwa fragwürdige Reformen, ist auch das positive, allerdings oft recht unbequeme Ergebnis des 1977 geschaffenen Strafvollzugsgesetzes.

 

Welche Bedeutung hat diese durch das Grundgesetz abgesicherte Erkenntnis des »Anspruchs auf unsere Aufmerksamkeit, und Hilfe« für die Arbeit eines Straffälligenhilfevereins? Zunächst ist festzustellen, dass wir uns für unser Tun nicht rechtfertigen müssen und nicht verpflichtet sind, uns wegen der fragwürdigen Zielgruppe unserer Hilfe zu entschuldigen. Wir tun mit der Straffälligen- und Entlassenenhilfe etwas Selbstverständliches, wir erfüllen nicht nur eine gesellschaftliche Aufgabe, sondern auch eine Rechtsnorm, die eigentlich auf alle Bürger, auf die staatliche Gemeinschaft zukommt. Diese staatliche Gemeinschaft ist nicht nur eine große Geldverteilungsanlage, die Steuern einnimmt und dann die Gelder wieder verteilt. Der demokratische Staat ist ein lebendiges und ständig zu aktivierendes Gebilde, dessen Mitglieder nur dann auf Dauer mit den Vorteilen und Angeboten dieses Staates rechnen können, wenn sie auch bereit sind, diesen Staat zutragen. Dazu gehört aber nicht nur, dass wir unsere Steuern zahlen, damit der teure Strafvollzug finanziert werden kann, der vielen oft zu komfortabel erscheint, so dürftig er in Wirklichkeit auch sein mag. Unsere Aufgabe geht weiter. Wir sind es, wie das Schwerbeschädigtengesetz ausweist, gewohnt, unsere gesellschaftlichen Verpflichtungen mit Geld, mit noch dazu oft unangemessenen Beträgen abzudecken. Anstatt einen Schwerbeschädigten zu beschäftigen und ihm eine Chance zu geben, Selbstbewusstsein und Lebenssinn aufzubauen, zahlen wir wegen kleiner Unbequemlichkeiten lieber eine entsprechende Abgabe. Dies gilt in noch höherem Maße für die Verpflichtung, die wir gegenüber den »sozial Schwerbeschädigten« haben. Und damit sind wir bei der Frage, ob Straffälligenhilfe eine Aufgabe für den Bürger ist.

 

Sicherlich ist es bereits eine Hilfe für den Straffälligen und für die, die ihm helfen wollen, wenn Beiträge und Spenden für einen Straffälligenhilfeverein gegeben werden. Schon die Mitgliedschaft und die Beiträge stellen einen symbolischen Akt der Solidarisierung mit dieser Aufgabe dar. Es geht aber um mehr. Straffälligenhilfe ist immer auch persönlicher Einsatz und Bemühung. Straffälligenhilfe geht über Geldspenden und Mitgliederbeiträgen hinaus.

 

Daraus ergeben sich zwei Fragestellungen, mit denen wir uns noch beschäftigen wollen.

1. Ist Straffälligenhilfe nicht eine Aufgabe des Staates, der als Ordnungsmacht den Rechtsbrecher aus der Gesellschaft herausnimmt, ihn isoliert und ihm sicherlich ungewollt einen erheblichen Realitätsverlust und eine für die Zukunft lähmende Stigmatisierung auferlegt? Muss nicht die Organisation, die eine wenn auch bedauerliche, so doch notwendige und unvermeidliche Schädigung herbeiführt, für deren Beseitigung sorgen? Sollte diese Aufgabe nicht einem umfassenden Sozialdienst in der Justiz übertragen werden, der mit fachlicher Kompetenz die hier anstehende schwierige Aufgabe erledigt? Kann dies heute von qualifizierten Fachkräften nicht besser erledigt werden als von oft gering informierten und in ihrem Engagement begrenzten Bürger?

Und 2.: Gibt es eine spezifische, von niemand anderem realisierbare Aufgabe der freien und ehrenamtlichen Straffälligenhilfe, die auch vom Staat und ihren Organisationen nicht übernommen werden kann? Welches ist die spezifische Aufgabe des Bürgers als Straffälligenhelfer?

 

Beantworten wir zunächst wenigstens kurz die erste Frage, nämlich die des Verhältnisses von staatlicher Fürsorgepflicht einerseits und freiwilliger Hilfe andererseits. Hierzu könnten viele Aspekte genannt werden, die sich letztlich aus dem Thema des Verhältnisses des Bürgers zum Staat insgesamt ergeben. In der Kürze der uns zur Verfügung stehenden Zeit soll aber nur auf einige aktuelle und spezifische Probleme verwiesen werden.

 

Wie auch immer man die wirtschaftliche Lage in den letzten Jahren beurteilen mag, ganz sicher ist im Blick auf die öffentliche Hand die Zeit des Überflusses vorbei. Es muss gespart werden, und wenn gespart wird, dann wird zuerst dort gespart, wo die Schwächsten in der Gesellschaft angesiedelt sind. Hierher gehört selbstverständlich auch die Straffälligenhilfe. Wenn auch bis jetzt keine spektakulären Kürzungen bezüglich des Sozialdienstes festzustellen sind, bleibt doch die Situation der Straffälligenhilfe, soweit es die öffentlichen oder gesellschaftlich-staatlichen Aktivitäten betrifft, in einer unzulänglichen Situation. Es wurde nämlich auch in Zeiten der Hochkonjunktur und des verfügbaren Geldes wenig oder zumindest nicht genügend in dieser Richtung getan. Sicher, gibt es Reformen und Verbesserungen im Strafvollzug, die sich im internationalen Bereich sehen lassen können. Andererseits aber ist der Sozialdienst sowohl im Strafvollzug als auch im Bereich der Bewährungshilfe noch völlig unzulänglich ausgebaut.

 

Man kann nur in der Gegenwart die Tendenz beobachten, aus der Not eine Tugend zu machen. Es wird plötzlich festgestellt, dass der Bürger wertvoll und nützlich ist, dass man ihn benötigt für Aufgaben, die früher von hauptamtlichen Kräften durchgeführt wurden. Dabei entdeckt man plötzlich, dass bürgerlich-solidarische Hilfe und Nachbarschaftshilfe besser, einfacher und wirklichkeitsnäher sind als ein schwerfälliger und formalistischer öffentlicher Apparat. So einfach liegen die Dinge aber nicht. Es wird der Eindruck erweckt, als ob zwischen professionell-öffentlichen Funktionen einerseits und freiwilligen Diensten der Bürger andererseits ein beliebiger Austausch möglich wäre. Hier wird die Tatsache verkannt, dass beide Seiten eine eigene spezifische Funktion haben. Sicherlich gibt es Bereiche, in denen gemeinsame Aufgaben zwischen dem hauptamtlichen Sozialarbeiter einerseits und dem freiwilligen Helfer andererseits bestehen. Dies kann z.B. bei Arbeits- und Wohnungssuche der Fall sein. Hierzu könnte ein freier Mitarbeiter einen hauptamtlichen Sozialarbeiter durchaus entlasten, wenn er z.B. diese Aufgabe für einen einzelnen Gefangenen übernimmt, zumal wenn der Sozialarbeiter im Vollzug oder in der Bewährungshilfe mit einer Vielzahl von Fällen überlastet ist. Es gibt aber auch eine Fülle von spezifischen Aufgaben, die nicht einfach zwischen den beiden Polen hin und her geschoben werden können. Im Ergebnis ist festzustellen, dass sowohl die öffentliche und professionelle Straffälligenhilfe wie auch die freie Hilfe ihre spezifischen Aufgaben haben. Um es an einem Beispiel deutlich zu machen: es kann vom Bürger nicht erwartet werden, dass er die komplizierte Sozialgesetzgebung durchschaut und z.B. das Bundessozialhilfegesetz oder andere Bestimmungen kennt. Auch psychologische, soziologische und pädagogische Fachkenntnisse können nicht bei jedem freien Mitarbeiter vorausgesetzt werden. Geht es z.B. um die Hilfe und Behandlung eines besonders schwierigen und psychisch belasteten Gefangenen, der außerhalb der Anstalt keine Angehörigen mehr hat oder dessen Angehörige nichts mehr von ihm wissen wollen, entsteht eine komplizierte und vielschichtige Aufgabe, die eine differenzierte Fachlichkeit erfordert. Hierfür haben wir noch lange nicht genügend spezifische Fachkräfte im Bereich der Strafrechtspflege. Andererseits ist es nicht erforderlich, dass professionell qualifizierte und hoch bezahlte Kräfte Aufgaben übernehmen, die auch von freien Helfern erledigt werden könnten, wenn es sie nur in genügender Zahl und Qualität gäbe. Ein Beispiel: ein entlassener oder unter Bewährung stehender Straffälliger leidet unter Vereinsamung und bedarf in vielen Fragen der Aufmunterung und Beratung. Es besteht die Gefahr, dass er die fehlende Geborgenheit und Problemlösung bei kriminellen Kreisen sucht. Hier kann ein für diesen Hilfebedürftigen spezifisch bereitstehender Helfer einen qualitativ besseren Dienst leisten. Der Straffällige ist dann nicht ein Fall unter vielen, sondern erlebt ein ganz persönlich ihn meinendes Angebot. Darüber hinaus bringt dieser Helfer auch noch den Vorteil mit, dass er nicht als Behördenvertreter oder Kontrolleur erscheint und auch tatsächlich unabhängig ist.

 

Die Frage also, ob nicht der Staat die Aufgabe der Straffälligenhilfe übernehmen müsse, weil er doch für die Entstehung der Notlage mit verantwortlich ist, kann weder mit ja noch mit nein beantwortet werden. Es ist vielmehr festzustellen, dass der Staat hier eine spezifische Aufgabe hat, die er sicherlich noch nicht zufriedenstellend gelöst hat, dass andererseits aber daneben immer und unabhängig von der Qualität staatlicher Hilfe freie Mitarbeiter erforderlich und sinnvoll sind.

 

Wir kommen zur zweiten Frage, nämlich zu dem Problem, ob es spezifische, von niemand anderem realisierbare Aufgaben in der freien und ehrenamtlichen Straffälligenhilfe gibt.

 

Auch in der einschlägigen Fachliteratur wird freiwillige und ehrenamtliche Mitarbeit in der Straffälligenhilfe häufig als Ergänzung und als »Laienarbeit« in eine Nebenrolle gedrängt. Ein spezielles Funktionsbild der freien Straffälligenhilfe ist noch nicht erarbeitet, vielleicht lässt sich eine solche Festlegung auch gar nicht realisieren, denn die Zahl der Probleme, Aufgaben und Krisen, die sich hier ergeben, ist fast unbegrenzt. Es gibt aber auch einzelne Handlungsfelder, in denen die spezifische Aufgabe der freien Straffälligenhilfe nachgewiesen werden kann. Hier ist dann auch der Bürger aufgerufen, sich zur Verfügung zu stellen und sich nicht auf hauptamtliche Kräfte zu verlassen.

 

Die Aufgaben des Bürgers in der Straffälligenhilfe, die ihm ganz wesentlich und grundlegend zukommen, sollen unter sieben Aspekten kurz angerissen werden:

 

  1. Schon vor 150 Jahren hat Johann Hinrich Wichern, der Gründer der Inneren Mission, der Vorgängerorganisation des Diakonischen Werkes, festgestellt, dass der größte Schaden für den modernen Menschen in der Industriegesellschaft aus der Vereinzelung entsteht. Wenn heute so viel von Integration, Solidarität und Sozialisation gesprochen wird, so ist dies doch nur die Reaktion auf die Tatsache, dass immer mehr Menschen vereinzelt sind und Kommunikation immer weniger gelingt. Wir können diesem Problem allgemein nicht nachgehen, müssen aber feststellen, dass Straffällige und Strafentlassene, Verurteilte und Probanden der Bewährungshilfe der Gefahr einer solchen Vereinzelung in erhöhtem Maße ausgesetzt sind. Mit der Strafverbüßung ist z. B. keineswegs ein Ausgleich hergestellt, wie dies in rechtstheoretischen Darlegungen häufig behauptet wird. Misstrauen, Distanz und Gleichgültigkeit bleiben oder werden erst akut, wenn der Straftäter in die Gesellschaft zurückkehrt. Gegen Vereinzelung aber können professionelle Helfer wenig ausrichten. Sie sind immer für viele da, während der Betroffene einen Menschen benötigt, der Zeit für ihn hat und auch speziell für ihn da ist. Dies kann nur ein freier Helfer, der sich die Aufgabe stellt, einem Einzelnen zu helfen, dem er für eine bestimmte Zeit und in einem bestimmten Zusammenhang zum Partner wird, wie wir das vorher schon dargelegt haben.
  2. So mannigfaltig die Lebensschicksale allgemein sind, so vielgestaltig sind auch die Lebenswege der Strafentlassenen. Sie benötigen häufig eine spezielle fachliche Hilfe, die ein Sozialarbeiter oder ein anderer hauptamtlicher Mitarbeiter der Straffälligenhilfe nicht anbieten kann. Als Beispiel sei ein Fall genannt, den ich selbst miterlebte. Ein kurz vor dem Abitur stehender junger Mann wurde inhaftiert und hatte eine längere Freiheitsstrafe zu verbüßen. Er konnte die Zeit seiner Inhaftierung zur Vorbereitung und zum Abschluss des Abiturs nur dadurch sinnvoll verwenden, dass es gelang, zwei Studienräte zu gewinnen, die ihm die erforderliche Hilfe gaben, die weder von den Sozialarbeitern noch von den Lehrern der Anstalt geleistet werden konnte. Das gleiche gilt für viele komplizierte rechtliche Verhältnisse, in denen fachliche ehrenamtliche Hilfe angebracht und angemessen ist. Die Fachlichkeit des Bürgers kann also in die freie Straffälligenhilfe eingebracht werden.
  3. Befreiend und helfend für den Straffälligen, der von den Mitarbeitern des Strafvollzugs, von seinem Bewährungshelfer und von den Vertretern des Jugend- und Sozialamtes auf seine Kriminalität hin angesprochen wird, ist die Möglichkeit, mit einem Partner unabhängig von diesen belastenden Tatsachen zusammenzuarbeiten. Das heißt nicht, dass die Tatsache der Straffälligkeit, die häufig die Hilfsbedürftigkeit ausgelöst hat, verdrängt werden soll. Der Bürger als Helfer hat aber keine amtliche Funktion, so dass er das Thema der Straffälligkeit dann aufgreifen kann, wenn dies angebracht ist. Er hat weder Kontrollverpflichtungen noch andere formale Bindungen, sondern kann sich ganz den vielen Lebensgebieten widmen, in denen der Straffällige vielleicht gerade von seiner Belastung frei sein will und auch frei sein könnte.
  4. Von mancher Seite wird geäußert, dass die von der Justiz eingerichtete Bewährungshilfe mit hauptamtlichen Bewährungshelfern einen ehrenamtlichen Mitarbeiter weitgehend entbehrlich mache Das Strafgesetz sieht aber ausdrücklich den ehrenamtlichen Bewährungshelfer vor. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass selbst die Straffälligen, die heute einen hauptamtlichen Bewährungshelfer erhalten, von diesem nur begrenzte Hilfe erhalten können. Die Fallzahl pro Bewährungshelfer ist heute leider noch weit höher als dies unter fachlichen Aspekten vertretbar ist. Aber selbst wenn jeder Bewährungshelfer nur 30 oder 40 Probanden hätte, könnte er für den einzelnen nicht in dem Sinne zum Helfer werden, wie dies ein freier Mitarbeiter kann. Neben der von dem Gesetzgeber vorgesehenen Bestellung eines ehrenamtlichen Helfers (§ 56d, 5 StGB, § 24,1 JGG) ist also auch noch als sinnvolle Hilfekonstellation die Zusammenarbeit eines hauptamtlichen Bewahrungshelfers mit einem dem einzelnen Fall zugeteilten freien Mitarbeiter als sinnvoll zu betrachten Auch hier gibt es sicher noch viele Möglichkeiten der Kooperation und der Differenzierung der Hilfe.
  5. Sowohl für den Strafentlassenen als auch für seine Angehörigen ist der Umgang mit einem freien Mitarbeiter, der von der Bevölkerung, insbesondere von den Nachbarn und Bekannten nicht mit der Justiz identifiziert wird, eine spezifische und nicht austauschbare Hilfe. Wir kennen viele Fälle, in denen Nachbarn und Arbeitskollegen sehr genau darauf achten, ob in einem Haus ein Bewährungshelfer oder ein Sozialarbeiter des Sozialamtes ein- und ausgeht. Der freie Mitarbeiter kann entstigmatisierend und unbelastet wirken. Er muss dazu allerdings das erforderliche Geschick entwickeln und andere Verhaltensweisen zeigen als ein behördlicher Vertreter. Hierzu allerdings bedarf es einer Weiterbildung freier Mitarbeiter, die weithin noch vernachlässigt wird.
  6. Auch über die allgemeine Hilfe hinaus hat der freie Mitarbeiter im Rahmen einer sich entwickelnden flexiblen Strafrechtspolitik wichtige Aufgaben. Wenn an Straffälligenhilfe gedacht wird, spricht man meist von Insassen von Anstalten oder von Entlassenen aus einer Haftanstalt. Dies sind zwar häufig die kompliziertesten Fälle, doch machen sie nur einen Bruchteil derer aus, die von der Strafrechtspflege betroffen und dadurch auch in soziale und menschliche Schwierigkeiten gebracht sind. Die Zahl der unter Bewährung stehenden Straffälligen übersteigt heute bereits weit die der Insassen von Strafanstalten. Hinzu kommen aber noch ganz neue Aufgabenfelder. Angesichts der Erkenntnis, dass Freiheitsentzug eine Vielzahl von schädlichen Nebenwirkungen hat und Lebensentfremdung und Isolierung drohen, versucht man in der Strafrechtspolitik, möglichst weitgehend Freiheitsentzug zu vermeiden. Dadurch werden vielleicht einige Probleme reduziert, es bleiben aber noch sehr viele unerledigte und dringende Aufgaben. Hier könnten freie Helfer noch viele Aufgaben übernehmen. Wenn man an Programme wie »Arbeit statt Strafe« denkt, dann kommt der Straffällige zumindest bei seiner Tätigkeit mit Bürgern zusammen, die wissen, dass er straffällig wurde. Für diese Personen, die durch ihre berufliche Funktion, z.B. als Mitarbeiter irgendeiner städtischen Gärtnerei, zum Helfer für Straffällige werden, ergeben sich vielfältige Chancen und die Notwendigkeit, Verständnis und Kooperation zu entwickeln. Auch bei »Sozialen Trainingskursen«, die anstelle von Jugendarrest und anderen Maßnahmen für Jugendliche und junge Rechtsbrecher angeordnet werden, stehen nicht genügend professionelle Kräfte zur Verfügung. Hier sind noch völlig neue aber wichtige Felder der Straffälligenhilfe. Ich höre bereits den Einwand, dass es ja kaum für den »harten Kern« der Strafentlassenen aus Anstalten reiche und man daher sich solchen Problemen schon gar nicht zuwenden könne. Daraus ergibt sich ein weiteres sehr wichtiges Arbeitsfeld.
  7. Der freie Mitarbeiter, der Bürger der diese Aufgabe erkennt, ist der wichtigste Träger der Öffentlichkeitsarbeit, die noch geleistet werden muss. Aufklärung und Information, allgemein und konkret zu einzelnen Hilfemaßnahmen sind noch in hohem Maße erforderlich. Im Sozialkundeunterricht der Schulen werden heute sehr häufig Themen der Straffälligkeit und insbesondere des Strafvollzugs behandelt. Dies bietet für den Unterricht eine gewisse Attraktion und stellt daher ein beliebtes Thema dar.

    Die sich daraus ergebenden Konsequenzen scheinen aber schnell vergessen zu sein, denn die Bürger, die sich zur Verfügung stellen, sind nach wie vor nur spärlich vertreten. Der Alltag scheint später alle guten Vorsätze zu begraben, so dass für soziale Aufgaben überhaupt nur noch wenige zur Verfügung stehen.

    Auch die immer umfangreicher werdende Freizeit scheint hier keine Änderung hervorzurufen. Umso notwendiger ist es, dass nicht nur Behördenvertreter und professionelle Sozialarbeiter für ihre Problemfelder werben, sondern dass Bürger, von denen man es allgemein gar nicht erwartet, sich für dieses Aufgabengebiet und für die Adressaten, nämlich die Randgruppe der Straffälligen, einsetzen. Dies kann zwar auch durch Einzelne im Bekanntenkreis geschehen, läuft aber häufig über Vereine und Organisationen, die nicht unmittelbar der Straffälligenhilfe dienen. So haben nach einer bei mir durchgeführten Untersuchung viele Bürger dadurch Verständnis für die Probleme junger Straffälliger gewonnen, dass sie mit ihrem Sportverein Wettkämpfe gegen Mannschaften aus Strafanstalten durchführten. Auch ein zur Zeit meiner Arbeit im Strafvollzug eingerichteter Gesprächskreis zwischen Berufsschülern aus Wiesbaden einerseits und Auszubildenden aus der Jugendstrafanstalt andererseits hat seinerzeit gute Ergebnisse gebracht. Hier ist der Kreativität und der Phantasie des Bürgers noch ein weites Terrain offen, das eigentlich eine junge Erwachsenengeneration reizen müsste, insbesondere angesichts der Tatsache, dass es in unserer regulierten und perfektionierten Gesellschaft kaum noch »Abenteuer« gibt. Straffälligenhilfe ist ein humanes Abenteuer, oft eine Expedition in ein weithin unbekanntes Land, bei der man alle seine Kräfte einsetzen muss. Hierzu sollen und müssen Organisationen wie ein Verein für Straffälligenhilfe Anregungen geben.

    Abschließend vielleicht noch ein Wort zu einer Problematik, die von den Bürgern häufig aufgegriffen und als Gegenargument benutzt wird. Immer wieder hören wir, dass doch für die Straffälligen sehr viel bereits getan werde, dass jeder, wenn er nur wolle, eine Chance habe, und dass die Hilfe zum Teil übertrieben werde. Es werden dann Beispiele genannt, bei denen sich ein nicht richtig orientierter freier Mitarbeiter in zu hohem Maße mit seinem straffälligen Partner identifizierte und diesen so kritiklos annahm, dass er missbraucht wurde. Aus politisch-kritischer Perspektive wird häufig andererseits gesagt, dass man »parteilich« für die Straffälligen sein müsse, dass sie als die Schwachen in der Gesellschaft zu verteidigen seien gegen den Egoismus und die Rücksichtslosigkeit der sogenannten anständigen Gesellschaft. Der kritiklose ehrenamtliche Helfer ist so wenig hilfreich wie der politische Kritiker, der die Verhältnisse einfach umdreht. Beide verfolgen andere Ziele als die einer an den Bedürfnissen des Adressaten orientierten Hilfe. Zwischen diesen Polen müssen wir versuchen, mit Einfühlungsvermögen und durchaus mit Sensibilität für Straffällige einzutreten und auch politisch deutlich zu machen, dass häufig gesellschaftliche Gegebenheiten Straffälligkeit fördern können. Keinen dieser Aspekte dürfen wir aber absolut setzen. Wenn es überhaupt einen absoluten Aspekt gibt, so ist er aus der Perspektive zu gewinnen, die der Herr Bundespräsident bei der Eröffnung des Deutschen Juristentages in Berlin im September 1986 bezeichnet hat. »Der Strafvollzug (und damit die gesamte Straffälligenhilfe) darf aber die Person keines Täters aufgeben. Wichtiger als die Lehre vom Tätertyp ist die Einmaligkeit jeder Person. Jeder, auch die, deren Taten die Gesellschaft besonders zu fürchten gelernt hat, hat die Chance auf neue Einsicht und den Anspruch auf unser Aufmerksamkeit und unsere Hilfe. Die große haupt- und ehrenamtliche Arbeit für und mit Strafgefangenen verdient unsere besondere Achtung und Förderung.

    Hier wiederhole ich eine Erkenntnis, die ich schon seit Jahrzehnten auch im Rahmen der Entwicklung des Strafvollzugsgesetzes betont habe. In einem kurzen Satz zusammengefasst heißt diese: »Liberalisierung ohne Qualifizierung ist Rückschritt.« Das Strafvollzugsgesetz hat manche Liberalisierung (z.B. Strafurlaub) gebracht. Das Sanktionssystem des Strafrechts ist flexibler geworden und hat neue Formen der Erledigung von Strafverfahren anzubieten. All diese Entwicklungen können auf Dauer nur haltbar und fruchtbar sein, wenn sich Bürger finden, die hier bereit sind, wenn wir also eine »besser funktionierende« Gesellschaft entwickeln können. Die Liberalisierung gelingt noch verhältnismäßig leicht, die Qualifizierung einer Gesellschaft scheint sehr viel schwerer zu sein. Mit dieser Qualifizierung geben wir auch eine Antwort auf den Vorwurf, unsere Hilfe sein nur Alibi und Verkleisterung schlechter gesellschaftlicher Zustände. Straffälligenhilfe ist nicht nur eine humane, sondern auch eine politische Legitimation des Strafrechtssystems, das an den Rechtsbrecher Ansprüche stellt, die auch von der übrigen Gesellschaft erfüllt werden müssen. Diese Gesellschaft ist vielleicht nicht in der Versuchung, zu stehlen, zu töten oder zu betrügen, sie ist aber häufig unsozial, unmenschlich und rücksichtslos. Damit verliert sie die humane Berechtigung zur Strafe. Das Strafrechtssystem bleibt dann lediglich eine Technik, die Ordnung aufrechtzuerhalten und bestehende Systeme zu stabilisieren.

    Der Verein für Straffälligenhilfe Wiesbaden, der heute sein Jubiläum feiert, ist ein vielleicht bescheidener aber doch wichtiger Beitrag zur Realisierung einer humaneren Gesellschaft. Ich wünsche dem Verein, dass er weiterhin Bürger finden möge, die diese gesellschaftliche Aufgabe erkennen und aktiv mitarbeiten. Unsere Gesellschaft wandelt sich schnell, die Aufgaben verändern sich, konstant bleibt aber über Jahrtausende die Tatsache, dass keiner ohne Menschen zum Menschen werden kann. Gesetze, Verordnungen, Institutionen, Organisation und Berufe mögen eine Vielzahl von sozialen Problemen aufgreifen und bewältigen. Die Hilfe bleibt eine leere Hülse, wenn sie nicht durch Humanität und Solidarität gefüllt wird. Eine funktionierende Strafrechtspflege, die uns und unsere Rechtsgüter schützt, erfährt - wie bereits dargelegt - ihre humane Rechtfertigung erst aus dem Hilfeangebot, das die Gesellschaft zur Verfügung stellen muss. Daher ist eigentlich ein Verein für Straffälligenhilfe nicht verpflichtet, sich zu rechtfertigen und seine Aufgabe gesellschaftlich zu legitimieren. Vielmehr sollte die Gesellschaft dankbar sein, dass Bürger diese gesamtgesellschaftliche Verpflichtung übernehmen und einen besonderen Solidarbeitrag leisten.